SEKT DIARY
Crémant Feuilleton
Exhibition: Crémant Feuilleton
Publikation: Sekt Diary
16.-18.08.2024
Fr. 16.08.,16-22 (Vernissage + Release), Sa+So 16-20
Kuration: MARS & La Felce
Konzept: Timo Schmidt
Text: Meike Eiberger
Ort: Bismarckstr. 68, 50672 Köln (Belgisches Viertel)
MARS – Frankfurt a.M., Anna Nero, Robert Schittko, Marcel Walldorf
La Felce – Köln, Ehrenfeld, Timo Schmidt
w/ Manuel Boden, Tim Bruening, Philip Emde, Jan Paul Evers, Aldo Freund, Moritz Grimm, Stefanie Haller, Jan Hoeft, Anna Hofmann, Stephan Idé, Thomas Judisch, Tobi Keck, Tina Kohlmann, Stefan Marx, Sofia Mascate, Malte Möller, Layla Nabi, Anna Nero, Patrick Niemann, Ramon Quenders, Alissa Ritter, Robert Schittko, Winnie Seifert, Nikita Sereda, Jeehye Song, Lucia Sotnikova, Hannes Uhlenhaut, Marcel Walldorf, Denise Werth
1964 fertigt Sigmar Polke mit Hilfe von Kugelschreiber und Aquarellfarben eine DIN A4 große Zeichnung an. In der Bildmitte befindet sich ein gefülltes Sektglas, dessen Inhalt in einem Neongelb koloriert ist. Mit offenen, erstaunten, aber auch gierigen Mündern schauen die drei Personen im unteren Bildrand das Glas an. Flankiert wird das überdimensionierte Trinkgefäß von buntem Konfetti und Luftschlangen sowie der Aufschrift „Sekt für alle“. Wenngleich Polke mit seiner Zeichnung insbesondere den Geist der neuen Bundesrepublik ironisch kommentieren wollte, so hat das Blatt über 50 Jahre später nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Noch heute ranken sich um Schaumweine jeglicher Couleur unterschiedlichste Stereotype. Es eint sie jedoch, dass sie meist zu freudigen Anlässen und in Gesellschaft verzehrt werden. Geburtstage, Vernissagen oder sportliche Siege – sie alle werden mit der sprudelnden Flüssigkeit begossen. Diesen Umstand nimmt die im August erscheinende Publikation Sekt Diary zum Anlass, die Leser:innen dazu aufzufordern, selbst fröhliche Anlässe festzuhalten, an denen Sekt, Crémant oder Champagner verzehrt wurde. Begleitet wird dieses andere Tagebuch von 29 künstlerischen Positionen, die sich mit dem Thema Sekt im weitesten Sinne auseinandersetzen.
Die abgebildeten Werke treten vom 16. bis 18. August 2024 ebenso im Rahmen der Ausstellung Crémant Feuilleton in einen spannungsvollen Dialog. Malerei und Fotografie treffen hier auf Konzeptkunst und Bildhauerei. Die thematischen Schwerpunkte könnten ebenfalls nicht vielfältiger sein. Mal nehmen sich die Künstler:innen an Polke ein Beispiel und kommentieren süffisant die momentanen gesellschaftlichen Zustände, mal wird das Sektglas gänzlich zum Zerrspiegel der Wirklichkeit. Die unterschiedlichen künstlerischen Strategien laden dazu ein, sich in das feucht-fröhliche Treiben rund um das sprudelnde Getränk mitnehmen zu lassen – hier gilt frei nach Polke „Sekt für alle!“ oder viel mehr „für jeden Geschmack!“.
Da Schaumwein in Gemeinschaft konsumiert wird, ist dieses Projekt eine Kooperation zwischen den Off-Spaces La Felce (Köln) und M.A.R.S. (Frankfurt a.M.). Die Publikation wird zum Preis von 10,- Euro zu erwerben sein.
Vor dem Hintergrund, dass Schaumwein besonders gerne auf Vernissagen ausgeschenkt und verköstigt wird, erscheint es längst überfällig, ihn in den Fokus einer Ausstellung zu rücken. 29 Künstler:innen haben sich dem Thema gewidmet. Die Beiträge sind so vielfältig, wie die Geschmacksnuancen eines guten Champagners. Versammelt sind sie ebenso im begleitenden Heft „Sekt Diary“, in dem alle Fans des spritzigen Drinks freudige Anlässe festhalten können.
Zur heutigen Party begrüßt werden wir sodann von einem „Red Carpet“, den Tim Bruening in Cannes eingefangen hat. Die auf ihm zu findenden Falten lassen erahnen, welche wilde Nacht uns noch erwartet. Wer hierfür noch seine Garderobe upgraden möchte, wird bei Lucia Sotnikova oder Stephan Idé fündig. „Lippstadt“ zeigt 5 unterschiedliche High Heels in schreiendem Pink, die nicht nur die perfekte Ergänzung für jedes Outfit versprechen, sondern nicht zuletzt durch ihre Materialität auf eine gewisse Oberflächlichkeit verweisen. Die „Verkehrskontrolle unter den Achseln“ lässt sich auf alle Fälle mit dem Pullover überstehen, der uns durch seinen Cabriolet Aufdruck einen exklusiven Anstrich verleiht.
Manuel Bodens Arbeit offenbart uns in einer kurzen Momentaufnahme, wie Genießen aussehen kann. Liegt es am Sekt oder daran, dass die Protagonistin champagnerfarbene Kleidung trägt? Derart beschwingt, stoßen wir denn sogleich, wie die Affen Philip Emdes an und lassen den Abend auf uns zukommen. Die plüschigen Steiff-Tiere zeigen uns, einer Blaupause gleich, wie diese Party gelingen kann: miteinander genießen, ohne die Kunst aus den Augen zu verlieren. Ein fröhliches Miteinander versprechen ebenso die vielen Sektgläser innerhalb der Ausstellung.
„Meine hundert besten Freunde“ von Thomas Judisch wirkt wie ein Krimi, den es aufzulösen gilt. Die Besitzer:innen des jeweiligen Glases sind bereits entschwunden und doch möchten wir anhand der Lippenstiftabdrücke nur zu gerne herausfinden, in welchen Konstellationen hier schon getrunken wurde. Aus den Gedanken reißt uns Aldo Freunds Hand aus Styrodur, die direkt auf uns gerichtet ist. Sektglas und Zigarette sind mit dieser fest verwachsen und lassen an Momente denken, in denen uns Personen viel zu viel über ihre vermeintlich spannenden Projekte und Erfolge der letzten Zeit erzählen. Zu hoffen bleibt, dass sich anstrengende Smalltalk-Momente dieser Art im weiteren Verlauf des Abends nicht ergeben werden.
Als unverfängliches Thema ließe sich zum Beispiel über die Herstellung und Beschaffenheit von Schaumwein sprechen. Hauptbestandteil sind natürlich Trauben, denen wir bei Stefan Marx lächelnd gegenüberstehen. Die „Neustadt Trauben“ evozieren aufgrund ihrer Herkunft direkt Assoziationen zu piefigen Weinfesten, was sie für den Smalltalk vielleicht doch disqualifiziert. Trauben stehen ebenso im Zentrum Alissa Ritters Installation, die übergroßen Früchte und Spieße sind hierbei nicht zu übersehen. Als Zeichen für Geselligkeit, Liebe und Fruchtbarkeit treffen die dunklen und hellen Trauben auf Spieße, die eher Speeren gleichen, einem Symbol für Gewalt und Tod sowie Zerstörung. Im Wein bzw. im Rausch vereinen sich beide Gegensätze in einer kontemplativen Erfahrung. Wo sonst kommen wir dem Tod, aber auch der Liebe so nah, wie im Rausch?
Gegen ausschweifende Gedanken dieser Art helfen Snacks, die Hannes Uhlenhaut uns in besonders schöner Form darbietet. Champagner und Austern aus Keramik gehen im Plastikkoffer ein „Perfect Match“ ein. Um die Delikatessen runter zu spülen, böte sich ebenso ein Schluck aus Tobi Kecks gravierten Sektflaschen an, von denen unklar bleibt, ob sie süffisant den Sektkonsum dieses Abends oder den Kunstmarkt kommentieren. Mit vollem Magen lässt es sich sogleich viel besser darüber sinnieren, ob Winnie Seiffert von Trauben oder Rotkäppchensekt inspiriert war. Ihre kontrastreiche Farbwelt lässt uns zumindest für einen Moment den Trubel um uns herum vergessen und entführt uns auf eine Reise durch die Abendsonne und in rosa getünchte Weinberge.
Wie Polke kommentieren einige der Arbeiten kritisch den Zeitgeist. Robert Schittko liefert beispielsweise eine ganz neue Interpretation der 1911 erstmals im Industrial Worker erschienenen Illustration, die die Auswüchse des Kapitalismus anprangerte. Bei Schittko sind die herrschenden Klassen nunmehr seltsam anmutende Geschöpfe, welche an der Spitze der gläsernen Pyramide stehen. Getragen wird die Pyramide des kapitalistischen Systems durch Sekt. Opium für das Volk oder der einzige Eskapismus, der noch bleibt? Als kämpferischer Gegenentwurf tritt uns Sofia Mascates Maiskolben gegenüber. Die nach oben gestreckten Hände der Jahrmarktbude verheißen „Mais für alle“ und die Stadt dahinter brennt. Wie gut, dass sich auf dem Feuer der brennenden Hochhäuser sicher Maiskolben grillen oder ein Topf Popcorn aufstellen lassen.
Nikita Seredas Zeichnungen aus Kugelschreiber und Bleistift wirken wie Antipole zu Polkes Blatt. Bedrohlich erscheinen die Szenerien, Sekt gehört plötzlich zur Henkersmahlzeit oder wird von bösen Mächten eingeflößt. Spätestens der Satz „There is no Champagne for losing hope“ lässt uns kurz einen kalten Schauer über den Rücken laufen und froh darüber sein, Sekt in den meisten Fällen genießen zu dürfen. Weniger bedrohlich, dafür umso mysteriöser wirkt Ramon Quenders „Mann aus der Hecke“. Der Bewuchs erinnert zweifelsohne an Luftschlangen und Konfetti. Bei der dargestellten Person könnte es sich darum ebenso gut um die Begleitung des Abends handeln, die im bunten Partytreiben plötzlich nicht mehr aufzufinden ist.
Polke war bekannt für seine alchemistischen Versuche mit ganz unterschiedlichen Materialien. Diese Affinität für Experimente lassen sich ebenso in der Ausstellung beobachten. Patrick Niemann schafft aus unterschiedlichen Lacken die Landschaft der Champagne, während Anna Nero mit Acryl, Fimo und Epoxidharz versucht Schaumwein zu einer neuen Form zu verhelfen. Einer Gruppe Sektgläser haucht Jan Paul Evers mit Hilfe analogen Methoden der Bildbearbeitung neues Leben ein. Durch den Bearbeitungsprozess wird das Betrachten des Prints selbst zum Experiment, bei dem wir versuchen Perspektive und Unschärfe in Einklang zu bringen.
Jan Hoeft greift auf die digitale Bildbearbeitung zurück, um Sekt in eine Menschenmasse zu verwandeln. Diese erinnert an mittelalterliche Darstellungen des Fegefeuers, sodass einem das „Wohlsein“ im Halse stecken bleibt. Das mulmige Gefühl bleibt ebenso bei Stefanie Hallers Maske bestehen, die mit ihrer Glasur an anatomische Präparate denken lässt. Als eine Art Mahnmal für das dekadente Leben und seine Oberflächlichkeit hängt sie inmitten des Raumes. Doch keine Sorge, Party-Eskapaden lassen sich mit dem nötigen Kleingeld chirurgisch korrigieren und die „Sekthaut“ ganz einfach ablegen.
Mit steigendem Sektkonsum rückt die Wirklichkeit in immer weitere Ferne. Jeehye Songs surrealistisch anmutende „perpetual motion“ wirkt wie ein Zerrspiegel unserer Realität, in dem sich Gläser stetig und eigenständig befüllen. Wie von Zauberhand belebt erscheinen ebenso die Masken Tina Kohlmanns. „Ariel und Aerial“ versprühen eine zarte Leichtigkeit. Als gute Geister aus der (Sekt-)Flasche wachen sie über das muntere Treiben und versprechen gute Energien. Zu einem spannungsvollen Spiel der Wahrnehmung fordern uns die Plastiken Denise Werths heraus, die mithilfe von Nägeln an den Wänden hängen. Bei „Dry Drop“ lassen die Sektgläser durch ihre Farbe und den hinzugefügten Fransen ganz unterschiedlichste Assoziationen zu – nicht zuletzt als Phallus-Symbol – und wirken wie ein wunderbarer Kontrapunkt zu den realen Gläsern, die auf der Party kursieren.
Irgendwann ist die Luft raus und die „Party over“, wie Moritz Grimm auf einem großen Banner verkündet. Oder war sie aufgrund der momentanen gesellschaftlichen Umstände bereits vorbei, bevor sie überhaupt gestartet ist? Die müde Stimmung rettet auch keine letzte Zigarette mitsamt miniaturhafter Champagnerschalen, wie sie uns Malte Möller anbietet. Der finale Gang zur Toilette mit alkoholgeschwängertem Kopf stiftet ebenfalls Verwirrung, wenn uns Marcel Walldorfs gelbglasierte Hunde aus den Pissoirs ansehen. „Nicht ärgern, nur wundern“ heißt es hier, wenn bullige Kampfhunde ihr Revier markieren. Beim Gang nach draußen zeigt sich, welche Spuren die Feier bereits hinterlassen hat. Layla Nabi markiert die unbestimmte Flüssigkeit mit einem „Leidkegel“, der uns den Weg zum Kater des nächsten Morgens weist. Es bleibt uns zu wünschen, dass am nächsten Tag ähnlich nette Helfer:innen bereitstehen, wie die Herzen in Anna Hofmanns Acrylgemälde. Wie schön wäre es, wie der kleine Dalmatiner umsorgt zu werden und die wilden Ausschweifungen der letzten Nacht (vorerst) zu vergessen. Zumindest, bis es das nächste Mal von den Dächern ruft „Sekt für alle!“.